Ein strahlend klarer Geist in finsteren Zeiten

(Aus Eberhard Kügler (Hrsg.) „Zen – Sternstunden und Praxis“)

Autorin: Dagmar Doko Waskönig

Im Gedenken an den gemeinsamen Lehrer, Meister Gudo Wafu Nishijima, an sein unermüdliches Wirken für das Verständnis der Lehren Meister Dogens sowie an meine vielen Nachfragen dazu im Vieraugengespräch in seinem Zimmer, seine spürbare Freude, wenn er Klärendes dazu beibringen konnte, – im Gedenken daran möchte ich auch an dieser Stelle einige Gedanken vorstellen, die sich auf einen Text im SHOBOGENZO, dem Hauptwerk von Meister Dogen, beziehen.

Wir leben in einer Zeit, in der sich bekanntlich eine Reihe von schwerwiegenden Krisen zusammen ereignen, deren langfristige Auswirkungen wir noch gar nicht abschätzen können: die Klimakrise, die Pandemie und nicht zuletzt der furchtbare Krieg in der Ukraine mit noch ungewissem Fortgang. Angesichts dessen scheint es noch dringlicher als zuvor geworden zu sein, dass möglichst viele Menschen gut gegründet einen klaren Geist bewahren, ihn flexibel immer erneut aktivieren, um so, gegründet auf weises Verstehen und Mitgefühl, rechte Entscheidungen, rechtes Handeln zu ermöglichen, indessen Niedergeschlagenheit oder ein Aufgreifen irrationaler Theorien nicht aufkommen lassen.

Die buddhistische Lehre vermittelt nicht nur eine klare Sicht auf die Ursachen und Bedingungen all jener Leid bringenden Prozesse, so komplex sie im Einzelnen auch sein mögen, sie ermöglicht auch eine Stärkung jener Kraft der Klarsicht in der Meditation, in Zazen.

Das Kapitel KOMYO in Bd. 2 des SHOBOGENZO ist diesem Thema gewidmet, aus dem wir einige wenige Aspekte aufgreifen wollen. Bereits die verschiedenen Übertragungsmöglichkeiten dieses Titels verweisen auf die Vielschichtigkeit der damit bezeichneten Wahrheit. Nishijima/Linnebach wählen in ihrer Übersetzung ins Deutsche den Begriff Strahlende Klarheit, während andere Übersetzer wie z.B. der Dogen-Forscher Hee-Jin Kim sich für Strahlendes Licht (radiant light) entscheiden. Beides ist gut möglich: In strahlender Klarheit klingen ein spezifisches Befinden, ein Erkennen und eine Wahrnehmung an, auch der eigentümliche, in Worten nicht zu fassende Geschmack von Zen, der zur Erfahrung vieler Praktizierender gehört. Hingegen nimmt Strahlendes Licht den Aspekt des Lichts auf, der ja tatsächlich im Zeichen KO enthalten ist, ebenso im ersten Teil des chinesischen Ausdrucks Guang ming, der im Japanischen zu KOMYO wurde. Und dies spricht die subtilste Ebene des Geistes an, die in der anderen bedeutenden Tradition des Mahayana, in der tibetischen Lehre, als Klares Licht benannt wird.

Doch ist hier gleich klar zu stellen, dass damit nicht die verschiedenen Licht-Effekte gemeint sind, die in der Meditation aufkommen können, die aber immerhin darauf hindeuten, dass das Bewusstsein einen gewissen Grad von Sammlung erreicht hat. In der Zen-Erfahrung geht es wesentlich und nicht zuletzt um das tägliche Leben der Praktizierenden, dem jene besondere Qualität zukommt, von der hier die Rede ist. Dogen führt das Beispiel von Meister Unmon an, einem der bekannten chinesischen Meister der Tang-Zeit, der eines Tages in einer Dharma-Rede sagte: Jeder Mensch besitzt vollständig die strahlende Klarheit. Wenn er sie sucht, ist sie unsichtbar in tiefster Dunkelheit. Was ist diese strahlende Klarheit, die in allen Menschen existiert? Als niemand aus der Versammlung antwortete, sagte der Meister an ihrer Stelle: Die Mönchs-Halle, die Buddha-Halle, die Küche und die Drei Tore.

Diese nach Zen-Art überraschende Antwort enthält keinerlei philosophische Analyse, nicht einmal einige Worte zur Natur des Geistes, vielmehr nichts anderes als den knappen Verweis auf die wesentlichen Gebäude des Klosters. Ein geistiges Befinden wird umstandslos auf physische Objekte projiziert, die Orte der Zen-Praxis der versammelten Mönche. In der anschließenden Erläuterung betont Dogen vorab einige Aspekte, die einer irrigen Sicht auf KOMYO vorbeugen sollen. Diese strahlende Klarheit sei weder vorher schon da, noch komme sie irgendwann. Vielmehr „besitzt“ jeder Mensch sie aus sich heraus, sie sammelt sich selbst auf natürliche Weise und drückt sich aus. Sie ist also nicht einfach jederzeit verfügbar, wenngleich sie jeder „hat“, vielmehr kann sie sich im Zustand der Sammlung von Körper und Herz/Geist wie von selbst verwirklichen, kann dann erst vom Übenden bewusst gelebt werden. Ungeachtet dessen wirkt sie beständig, und der Mensch, so Dogen, benutzt sie und macht daraus Objekt und Subjekt. Infolge dessen betrifft sie ebenfalls unser karmisches Handeln und Denken, das wir im besten Falle mit Klarsicht anschauen können, sie verweist auf das Ganze der Existenz eines jeden Menschen. Es ist wichtig, ein Vertrauen in diese wahre Natur unseres Geistes zu entfalten und unser Üben darauf zu stützen. Sie jedoch nicht zu suchen, wie Unmon sagt, sondern in diesem Grundvertrauen die Praxis des Tuns im Hier und Jetzt zu verwirklichen.

Und dieses Tun kann sogar spontan in Form einer Kernaussage Ausdruck finden wie in jenem Moment der Hinwendung Meister Unmons zu seinen Mönchen, als er die angeführten Worte sprach. KOMYO zeigt sich als jeder Mensch und jede Klarheit wirklich hier und jetzt. Auch das Schweigen der Mönche in dieser Situation ist für Dogen mitnichten ein Zeichen des Nichtverstehens, sondern ein Aufscheinen des Unsagbaren, der Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, des wunderbaren Geistes des Nirvana, authentisch von Buddha und den Dharma-Ahnen übermittelt, von Shobogenzo also.

Die von Unmon genannten Gebäude sind jene Orte, in denen sich die gemeinschaftliche Klosterpraxis der Mönche (und Nonnen) insbesondere entfalten kann. Die Drei Tore, traditionell ein Eingang mit drei Durchgängen, dienen dem besonderen Moment, wenn jemand in ein Klosterleben eintritt. Die Mönchshalle ist der Ort für Zazen; während der Klausurzeiten werden dort zudem die Mahlzeiten eingenommen und man schläft an seinem Sitzplatz. In der Buddhahalle finden die Zeremonien der Verehrung des Buddha und der Bodhisattvas und Ähnliches statt sowie die Dharma-Reden – wichtige Facetten der geistigen Aktivität der Mönche. Die Küche schließlich ist – im Zen besonders betont – ein bedeutsamer Übungsort, in dem für das in erster Linie physische Wohl der Gemeinschaft gesorgt wird. Strahlende Klarheit kann sich überall dort im Tun aus dem Geist des Erwachens (Bodhi) heraus ereignen; sie durchtränkt die Übenden, wirkt sich in ihrer konkreten Wahrnehmung im Moment des Tuns aus, betrifft indes das Ganze, also auch das Erfahren der Gebäude selbst und der gesamten Umgebung. Sie übersteigt das eigene Bewusstsein und offenbart das Sosein der Wesen und Dinge.

Innerhalb eines Sesshins, der intensivierten Praxisperiode in einem Dojo oder Zentrum haben wir die Möglichkeit, Komyo auch außerhalb eines Klosters zu verwirklichen, wenn Körper, Herz und Geist sich entsprechend stark sammeln können. Dies wirkt gewöhnlich einige Zeit im Alltag nach und wird allmählich schwächer. Es ist nun einmal so, dass die vielfältigen Anforderungen und Eindrücke des Alltags die Sammlung nicht in gleicher Weise ermöglichen wie in einer Zeit des Rückzuges. So ist es wunderbar, wenn wir immer erneut die uns tragende und erfrischende Kraft von Komyo aktivieren können, nicht zuletzt, um auch den häufig schwierigen Erfordernissen des täglichen Lebens mit Klarsicht und der dazu erforderlichen Kraft begegnen zu können. Sind die Bedingungen dafür gegeben, wird wohl etwas wie ein Hauch von Komyo in latenter Form weiterhin wirksam bleiben. Freilich sind sich die Praktizierenden weder im Kloster noch anderswo des Buddha bzw. des Buddha-Auges bewusst, denn es gibt die Klarheit ohne Buddha und die Klarheit mit Buddha.

In einer atemberaubenden, sich sprachlich kaskadenartig steigernden Sequenz spricht Meister Dogen sodann noch eine subtilste Ebene des Geistes an, wo ein Jeder nicht nur die strahlende Klarheit besitzt, sondern sie IST. Jeder ist strahlende Klarheit, ist strahlendes Licht; Jeder ist Jeder, der verwirklichte Jeder – geschaut auf der subtilsten Ebene der Gleichheit, wo Jeder strahlendes Licht ist, momenthaft aus sich selbst heraus leuchtend.

Ein Ausspruch von Meister Seppo, dessen Nachfolger Unmon war, hebt noch einen weiteren Aspekt dieses vielschichtigen Geschehens hervor. Dieser lehrte eines Tages vor der Versammlung: Vor der Mönchshalle bin ich euch allen begegnet. Dies sei die Zeit – so Dogen -, wenn Seppos ganzer Körper das Auge sei. Es ist der kurze Augenblick, in dem Seppo sich selbst erkennt, und es ist die Mönchshalle, die wirklich die Mönchshalle ist.

Diese Halle ist dann nicht bloß ein Gebäude, das man üblicherweise zu nutzen gewohnt ist. Wirklichkeit, Sosein wird in diesem Moment realisiert, wenn der ganze Körper zum Auge wird, ein die ganze Person erfassendes Erkennen sich ereignet. Und dies geschieht in einem Zurückgeworfen-Werden auf das Selbst, die sehr tiefe, wissende Berührung des Herzens, die sich sogleich ausweitet hin zur unsagbaren Wirklichkeit des Übungsortes. Und das Herz ist augenblicklich sehr still geworden. In dieser Tiefendimension geht die Erfahrung des Selbst weit über das begrenzte Ego-zentrierte Bewusstsein hinaus, ist augenblicklich unerwartet dicht und tief mit den Angesprochenen wie auch mit dem kostbaren gemeinsamen Üben und Leben verbunden.

Und ganz am Ende des Kapitels kommt erneut die sehr bodenständige Perspektive des Lebens in und mit Komyo zu ihrem Recht, und zwar in der knappen Formulierung von Meister Shin-o: Der Tenzo geht in die Küche. Ein Tenzo ist in der Zen-Tradition der Küchenchef, eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, in der Komyo wirklich werden kann. Doch die ungeheure, auch zeitliche Tiefendimension, die Dogen damit verbindet, zeigt uns sein einziger Kommentarsatz dazu: Diese Worte beschreiben die Sache vor den Sieben Buddhas. Das heißt, ein auf den Bodhi-Geist gegründetes Wirken des Kochs, von klarsichtigem Mitgefühl und Achtsamkeit getragen, ist Ausdruck einer gewissermaßen ewigen, weisen und tätigen Fürsorglichkeit eines Menschen für seine Mitwesen und gilt in diesem Kontext ebenso den für den Lebensvollzug benötigten Lebensmitteln und Utensilien.

Literaturhinweis:

Meister Dogen, Shobogenzo Bd.2, übertragen von Ritsunen Gabriele Linnebach und Gudo Wafu Nishijima-Roshi, Heidelberg-Leimen 2013 (2. Aufl.)

Flowers of Emptiness, Selections from Dogen´s Shobogenzo, Hee-Jin Kim (transl.), Lewiston/Queenston 1985